Donnerstag, 21. November 2019

Ich bin unperfekt! Nieder mit dem Selbstoptimierungswahn!

In unserer Leistungsgesellschaft scheint es das ungeschriebene Gesetz zu geben, dass der menschliche Wert sich aus der Leistung ermisst, die ein Wesen bringt. Und dass diese Leistung nicht nur gut zu sein hat, sondern ausnahmslos hervorragend. Sich immer mehr steigern muss, als wären wir Maschinen, deren Kapazität sich unendlich ausweiten lässt.

Gut ist nicht mehr gut genug. Nett ist die kleine Schwester von Scheiße. Ehe wir uns versehen, hängen wir in der Perfektionsfalle. Dann reicht es nicht mehr, allen Rollen, die wir ausüben, gerecht zu werden - wir müssen unschlagbar darin sein. Dann genügt es nicht mehr, seinen Job vernünftig zu erledigen - wir müssen zig Überstunden leisten, bevor wir überhaupt am Mindestsoll kratzen. Dann langt es nicht mehr, ein gutes Elternteil zu sein, wir müssen Höchstleistung in dieser Disziplin vollbringen. Wir sollen perfekt aussehen, perfekt agieren, ein perfekter Partner, Freund oder Mitarbeiter sein und selbst unsere Freizeit zu einem Highlight machen, das wir dann auf perfekte Weise den sozialen Netzwerken präsentieren.

Natürlich SIND wir nicht perfekt! Aber wir müssen zumindest versuchen, es zu werden! Alles dransetzen, jeden Versuch unternehmen, niemals nachlassen, uns niemals mit dem Durchschnitt zufriedengeben.

Ganz schön anstrengend, oder?


Eine Lebensweise wie diese baut ungeheuren Druck auf. Es gibt keinen Bereich des Lebens mehr, ob beruflich oder privat, in dem wir das Gefühl haben, wir können mal Fünf gerade sein lassen oder uns so zeigen, wie wir tatsächlich sind. Manchmal, wenn wir zu erschöpft sind, um noch mitzuhalten, wagen wir es aber doch. Ausbleibende Anerkennung kratzt dann an unserem Selbstwertgefühl und wir verdoppeln und verdreifachen unsere Anstrengung. Wir werden so, wie wir glauben, wie die Anderen uns haben wollen. Und bezahlen diesen Optimierungswahn mit unserer inneren Ruhe und unserer Lebensqualität.

Und wir machen uns etwas vor, denn egal, wie einmalig unsere Leistungen sind: Irgendwo gibt es immer irgendjemanden, der uns überholt. Und dann stehen wir wieder da, wo wir am Anfang waren und fühlen uns unfähig, mickrig und minderwertig. Burnout und Zusammenbrüche markieren den Endpunkt dieser Entwicklung. Ganze Generationen leiden unter den astronomischen Ansprüchen, die von der Gesellschaft toleriert oder sogar gefördert werden, obwohl niemand (!) ihnen gerecht wird.

Der Selbstoptimierungswahn hat inzwischen Züge angenommen, die auf eine zynische, menschenverachtende Art alles zerstört, was uns wertvoll und wichtig ist. Er funktioniert nur, weil so viele ihm blind folgen. Er würde in Frage gestellt, wenn Menschen sich ihm verweigern würden.

Heute zeige ich zehn Möglichkeiten, um diesem Wahn zur Selbstoptimierung zu entkommen:


1.  Schraube deine Ansprüche runter.

Es reicht, wenn du einmal die Woche joggen gehst, jeden Tag muss nicht sein. Der Urlaub an der Nordsee im Ferienhaus ist auch schön, selbst, wenn du dann keine Bilder von den Malediven bei Facebook posten kannst. Du musst nicht ständig glutenfreies Brot backen, um deine Kinder gesund zu ernähren und nicht in die XS passen, um attraktiv zu sein. Bringe deine eigenen Maßstäbe und Ansprüche auf ein gesundes Maß und gestehe dieses Maß auch deinen Mitmenschen zu.

2. Dezimiere die Anzahl deiner Pflichten.

Du tanzt auf hundert Hochzeiten und wunderst dich, dass du überfordert bist? Job, Familie, Haushalt, Ehrenamt und Deutschlands neuer Superstar? Lege für dich fest, welche deiner Rollen dir wirklich wichtig sind (oder welche du nicht einfach abstreifen kannst) und dann konzentriere dich darauf. Die übrigen streiche rigoros. Wenn du Vollzeit arbeitest, musst du nicht auch noch für den Kindergartenbasar den Kuchen backen. Wenn du selbst große Probleme hast, die eine Lösung brauchen, kannst du nicht immer als Ratgeber und Tröster im Freundeskreis zur Verfügung stehen. Wenn deine Aufgabenliste im Büro schon von hier bis Timbuktu reicht, ist nicht der richtige Zeitpunkt für das siebenhundertste Projekt. Setze Grenzen und fokussiere dich auf die Rollen, die in deiner jetzigen Lebensphase zu dir passen und dir wichtig sind.

3. Wende das Pareto-Prinzip an.

Es besagt, dass du mit 20 % Aufwand 80 % Ertrag erreichst. Um die übrigen 20 % zu schaffen, musst du hingegen 80 % investieren. Gut ist also doch gut genug! Überprüfe deine Aufgaben und Pflichten hinsichtlich ihres Aufwands im Verhältnis zum Erfolg und beschränke dich darauf, maximal 80 % Leistung zu erbringen. Das schont deine Ressourcen und genügt trotzdem. Wenn das jemandem nicht gefällt - und das wird es, rechne mit Gegenwind! - dann ist das sein Problem, nicht deins! Meistens passieren aber keine schlimmen Dinge, wenn eine Mail mal mit einem Tippfehler rausgeht, weil du sie nur dreimal gecheckt hast (statt fünfmal) oder wenn du mit einer nur leidlich gebügelten Bluse auf Arbeit erscheinst. Schlimme Dinge passieren vor allem dann, wenn man sich selbst derart ausbeutet und überfordert, dass man irgendwann zusammenklappt.

4. Specke deine To-do-Liste ab.

Du hast nur 24 Stunden am Tag zur Verfügung und an den meisten davon musst du arbeiten oder schlafen. Teile die übrigen klug auf. Nimm dir nur eine realistische Anzahl an Aufgaben vor und baue dir Puffer für Unvorhergesehenes ein. Auch Tätigkeiten, die deiner Erholung dienen, gehören verbindlich auf deine To-do-Liste.

5. Frage dich: Sind das überhaupt deine eigenen Ziele und Ansprüche?

Überprüfe regelmäßig, wessen Ansprüche du da eigentlich gerade erfüllst. Wenn sie gar nicht oder schwer erreichbar sind, ist das umso wichtiger! Sind es die deines Chefs, deiner Mutter, Frau, Tochter, etc? Dann setze Grenzen und kommuniziere diese. Oder finde Kompromisse in einem klärenden Gespräch. Aber werde dir klar darüber, ob du nicht vielleicht einem fremden, nicht zu dir gehörenden Anspruch nachjagst oder ein fremdes Ziel verfolgst. Dazu gehören auch die Ansprüche von längst Verstorbenen oder noch lebenden Verwandten, die du vielleicht verinnerlicht hast. Deshalb kommen sie dir womöglich wie deine eigenen vor. Mach dir klar, dass die Ansprüche anderer Menschen nicht dein Maßstab sein müssen, wenn du das nicht willst! Du kannst selbst entscheiden und einen Maßstab schaffen, der zu dir und deinem Leben passt. Du musst dir weder fremde Ziele noch fremde Erwartungen überstülpen lassen.

6. Kultiviere Selbstliebe.

Würdest du deinen besten Freund zur weiterer Höchstleistung antreiben, wenn dieser völlig erschöpft vor dir steht und ihm längst die Zunge aus dem Hals hängt? Natürlich nicht? Warum machst du das dann mit dir selbst?
Lerne, positive, ermutigende und aufbauende Gespräche mit dir selbst zu führen. Tröste dich, wenn etwas schief geht. Gestatte dir Schwäche. Begegne dir selbst mit Mitgefühl, Liebe und Verständnis.
Behandle dich als einen Menschen, den du sehr gern hast und dessen Wohlergehen dir wichtig ist. Du hast es verdient und du darfst das. Niemand ist für dich so wichtig wie du selbst!

7. Reite keine toten Pferde.

Es zeugt von Willensstärke und Biss, wenn man an Zielen festhält. Grundsätzlich stimmt das auch, aber manchmal verbeißen wir uns in Ziele, die nicht (mehr) erreichbar sind oder keinen Sinn ergeben. Vielleicht, weil wir auf die Umstände zu wenig Einfluss haben oder weil die Ziele uns nicht mehr entsprechen. Habe den Mut, zu erkennen, wenn ein Ziel verloren ist und lasse es bewusst los. Vielleicht wird dein Buch nie geschrieben, dein Traumjob nie realisiert, dein Kind nie geboren, dein Marathon nie gelaufen. Darüber darfst und sollst du trauern. Aber du sollst nicht das verlorene Ziel krampfhaft festhalten und dir dadurch die Chance auf andere, vielversprechende Ziele nehmen. Lass los, dann hast du die Hände für etwas Neues frei.

8. Ziehe Grenzen.

Manchmal ist es nicht so leicht, einzuschätzen, was deins und was nicht deins ist. Das gilt nicht nur für Ansprüche und Erwartungen (siehe Punkt 4), sondern auch für Aufgaben, Haltungen, Zuständigkeiten, Verantwortungen. In einem falschen (= fremdbestimmten) Leben wirst du dich nicht wohlfühlen und obwohl ein gewisses Maß an Fremdbestimmung unabdingbar ist, gibt es doch einen großen Bereich an Freiheit, der uns selbst gehört. Nur oft haben wir nicht den Mut, diesen deutlich abzustecken, weil wir niemanden vor den Kopf stoßen wollen. Dies zu lernen ist unbedingt nötig für ein erfüllendes und zufriedenes Dasein.

9. Bewerte Scheitern neu.

Du hast einen Job nicht bekommen oder bist gekündigt worden? Ein Projekt ist gründlich daneben gegangen? Deine Torte schmeckt nicht? Dein Kunstwerk wird verrissen?
Scheitern fühlt sich blöd an. Minderwertigkeitsgefühle und Scham treffen auf Groll, Wut und Ärger auf uns selbst und die ganze Welt. Dazu gesellen sich unerfüllte Sehnsüchte und unbefriedigende Bedürfnisse. Blöde Mischung!

Aber hast du mal dein Konzept von "Scheitern" in Frage gestellt? Wer bestimmt, wann und warum wir gescheitert sind? Gibt es überhaupt ein gemeingültiges Kriterium dafür und warum unterwirfst du dich diesem so bereitwillig?

Ein paar gedankliche Anregungen für dich:

Was könnte das "Scheitern" an Positivem mit sich bringen?
Wer ist wohl immer erfolgreich und scheitert nie?
Wie (schwerwiegend) sind diese Auswirkungen des Scheiterns wirklich?

10. Erlaube dir Fehler.

Wir alle machen welche. Und da ist nichts dabei. Manche sind schlimm, die meisten aber nicht. Sie alle bringen uns etwas Wichtiges bei. Wir müssen lernen, wieder eine Kultur zu werden, in der Fehler nicht derart überbewertet werden, dass sie zu einer Katastrophe oder etwas Peinlichem werden, das man verbergen und totschweigen muss. Wenn du mutig genug bist, mach doch mal den ein oder anderen Fehler ganz bewusst und schaue, was passiert!

(Bildquelle)