EINS
Meine Wünsche waren hinterlistige Lügner. Sie
lockten mich mit ihrer unwiderstehlichen Strahlkraft und ließen mich glauben,
es würde genügen, wenn sie sich nur erfüllen, auf die ein oder andere Art. Aber
ein erfüllter Wunsch konnte trügerisch sein, er konnte ein Zuhause versprechen
und sich dann als ein Ort des Schreckens entpuppen.
Ein Wunsch war wie ein zerfallenes Haus: windschief,
marode und mit zugigen Ecken. Niemand wohnte mehr darin, außer den Ratten in
den düsteren Ecken. Ich vergaß, was ich dort tun wollte, als das Haus noch
behaglich und schön gewesen war. Ich erinnerte mich erst wieder daran, als die
Tapete in Fetzen von den Wänden hing und der Wind durch das morsche Gebälk sein
Klagelied schickte. Aber da war es zu spät.
Verbringen wir nicht allzu viel Zeit damit,
uns die Gestaltung unseres Daseins in den wunderbarsten Farben auszumalen und
vergessen dabei, dass die Umsetzung eigentlich harte Arbeit bedeutet? Schauen
wir nicht lieber nachdenklich aus dem Fenster, ohne aktiv zu werden, weil jede
Bewegung unsere Kräfte zu übersteigen scheint?
Ich war da keine Ausnahme. Jede Bewegung
erschien mir kaum schaffbar, sodass ich viele von ihnen gar nicht mehr
versuchte. Und kein noch so schöner Traum konnte mir zurückgeben, was ich
verloren hatte. Deshalb verließ ich das Haus meiner Träume, ohne
zurückzublicken. Es spielte keine Rolle mehr, dass ich ohne schützende Mauern
und ein Dach über meiner verletzten Seele in der Kälte der Nacht erfrieren
würde.
In jenem Herbst verbrachte ich viel Zeit
damit, auf Bäume oder gerodete Felder zu blicken und mich in der Sicherheit des
rastlosen Nichtstuns auszustrecken. Ich spazierte durch nebelverhangene einsame
Gegenden, um dem eisigen Frostgriff meines Zuhauses zu entgehen, und lief jeden
Tag ein Stückchen weiter. Drei Kilometer, vier, schließlich sieben und zehn.
Ohne es zu merken, erweiterte ich systematisch meinen Radius und erkundete neue
Gegenden, die mir viel interessanter erschienen als mein Alltag.
Das Wetter machte mir nichts aus: Ob es
regnete, stürmte oder mir die vertrockneten Blätter um den Kopf stoben – Ich
blieb auf meiner Linie und die lautete: Lauf weiter. Ich musste laufen,
um nicht zu sterben, denn ein Fuß vor den anderen zu setzen war das einzige, zu
dem ich noch zuverlässig in der Lage war. Ohne die Bewegung wäre meine letzte
Verbindung zum Lebendigsein abgerissen und ich wäre wie ein Zombie mit einem
Pfeil im Kopf in einer trostlosen Ecke meines Daseins zusammengebrochen.
Es war ein Donnerstagnachmittag, als ich Wilhelm
in seinem Palast traf. Palast nannte er später einmal sein Domizil,
obwohl es natürlich keiner war, sondern eher eine baufällige Scheune, in der
sich Unrat türmte und durch deren kaputte Tür der Wind pfiff. Aber wenn der
Schuppen auch kein Palast war, so stand er doch immerhin auf dem Gelände eines
alten Jagdschlosses, das inzwischen nicht mehr als eine traurige Ruine
darstellte. Seit Jahren geschlossen und im Inneren der Öffentlichkeit nicht
mehr zugänglich, trotzte das Anwesen, versteckt in einer kleinen Senke gelegen,
der Zeit. Ebenso, wie Wilhelm selbst es tat.
Ich war lange durch den Wald marschiert und
hatte mich darüber gefreut, dass mir langsam die Puste ausging, denn der Weg
führte mich stetig bergauf und dann wieder bergab. Rote Wangen und ein rasch
klopfendes Herz bedeuteten einen Moment der Ruhe im Geiste und das war genau
das, was ich ersehnte.
Obwohl ich seit Jahr und Tag in der Stadt auf
der anderen Seite des Berges lebte, war ich sehr lang nicht mehr hier gewesen,
vermutlich zwanzig Jahre oder mehr. Genauso lang schien das Anwesen auch leer
zu stehen. Ich brauchte einen Augenblick, um durchzuatmen, und sah mich
erstaunt um, weil dieser Ort, den ich so viele Jahre nicht besucht hatte, eine
schaurige Schönheit ausstrahlte. Auf seine ganz eigene Weise war er ebenso
kaputt, wie ich mich an den meisten Tagen fühlte, doch hinter seiner
blätternden Fassade verbarg sich eine erinnerte Schönheit, die durch das
zerfallene Mauerwerk, die zerschlagenen Fenster und das wuchernde Unkraut auf
dem Boden schimmerte.
Die Straße lag ein Stück entfernt, die Gegend
war, bis auf ein paar in der Ferne grasende Kühe, wie ausgestorben. Mir wurde
bewusst, dass ich allein hier war und während mich dieser Gedanke oft in Panik
versetzte, ließ er diesmal meinen rasenden Puls langsamer werden. Der Ort und
ich – beide versehrt und voller Mängel – trafen und erkannten einander und ich
wusste sofort: Hier bin ich nicht zum letzten Mal gewesen. Erstaunlich
und auch schade, dass ich ihn erst heute entdecke, wo er doch anscheinend auf
mich gewartet hatte.
Den Kopf in den Nacken gelegt, die Hände in
den Taschen, lief ich herum wie ein interessierter Tourist, der eine besonders
berühmte Sehenswürdigkeit zu erkunden versucht. Hier und da entschlüpfte mir
ein leises Oh, ein Seufzen nur, mühsam herausgequetscht durch meine
Stimme, die laut zu reden nicht mehr gewohnt zu sein schien.
Um ein von Gras bewachsenes Freigelände herum
gruppierte sich eine Handvoll zu einem U ausgerichteten Wirtschafts- und
Lagergebäude aus Stein, die breite Holztore zierten, natürlich alle verriegelt
und vernagelt. Gelber Putz aus Sandstein bröckelte von den Wänden, die noch
wenigen vorhandenen Fenster waren schmierig von Dreck. An der Frontseite, die
der breiten Einfahrt gegenüberlag, erhob sich eine kleine Kapelle, einstmals
weiß getüncht, heute grau von Staub und Verwitterung. Zumindest hielt ich das
Gebäude für eine Kapelle, denn es hatte einen kleinen Kirchturm, den eine Glocke,
eine rotblaue Uhr mit goldenen Zeigern, eine hübsch geformte Kuppel und darauf
ein ehemals goldenes Emblem zierte, von dem ich nicht erkennen konnte, was es
darstellte.
Ich ging um die Gebäude herum und an einer
üppigen Buche vorbei, unter deren Krone sich gewiss eine Bank hübsch gemacht
hätte. Weitere Gebäude erstreckten sich zu meiner Rechten, links die leicht
hügelige Weidefläche, in der Ferne ein Elektrozaun. Irgendwann hatte mal jemand
Parkplätze hier angelegt, also mussten die Häuser in der Vergangenheit noch
genutzt worden sein, doch jetzt lagen sie verlassen da und die auf den Stein
gesprühte Farbmarkierungen waren so verblasst, dass man sie kaum noch erkennen
konnte. An einem der Gebäude befand sich ein zugeklebter Briefkasten und nahe
dem Eingang hatten die verantwortlichen Behörden ein paar Hinweistafeln
angebracht, die vermutlich die paar wenigen bekannten Fakten zum Anwesen
mitteilten.
Ich trug meinen wehenden roten Schal an den
Wänden vorbei und über die großzügigen freien Flächen, spähte in blinde Fenster
und spinnwebenverhangene Ecken. Etwas weiter entfernt konnte ich ein paar Baracken
und drei, vier große Gebäude ausmachen, die der Bauweise nach zu urteilen in
den Fünfzigern entstanden sein mussten.
Der nostalgische Charme kroch mir in die
Glieder und ließ mich frösteln, als hätte mir jemand meinen Umhang entrissen,
als würde sich etwas entfalten, das besser verborgen blieb.
Schließlich, noch ein Stück weiter entfernt
und ebenfalls auf einem kleinen Berg thronend: Das sicher einstmals prunkvolle
Hauptgebäude: Ein aus zwei Teilen – eins schäbig und alt, eins weiß getüncht
und renoviert – bestehendes Schlösschen, das seltsam alt und neu zugleich
wirkte. Die beiden Häuser waren durch einen Bogengang miteinander verbunden.
Dem zweigeteilten Hauptgebäude schlossen sich weitere Gebäude an. Schlichte,
vergleichsweise kleine Bauten, die kein bisschen nach einer Schlossanlage
aussahen, aber doch eine fast edle Aura ausstrahlten, vielleicht, weil sie
lange Jahrhunderte der Geschichte überdauert hatten. Die meisten davon aus
demselben gelben Sandstein, der einmal fröhlich und stolz ausgesehen haben
musste, nun aber jeden Glanz vermissen ließ. Einige waren notdürftig renoviert,
weshalb ich mir zumindest ansatzweise vorstellen konnte, wie sie früher einmal
ausgesehen haben mochten. An diesem Ort passte nichts zusammen: Er war schäbig
und wunderschön im selben Moment. Mein Herz machte einen ungewohnt freudigen
Hüpfer: Ich hatte einen Lost Place entdeckt, der faszinierende
Geschichte in seinem Inneren verbarg, doch nach außen vor sich hin moderte.
Dieser Ort war wie ich! Eine unattraktive
Hülle, hinter der sich eine Substanz verbarg, die kaum in Zügen zu erahnen war und
doch existieren musste! Denn immerhin waren wir ja noch hier, dieses Schloss mit
seinem guten Dutzend schäbiger „Prachtbauten“ und ich! Irgendeinen Zweck musste
unser Dasein demzufolge noch erfüllen – oder hatte es einst getan. Es galt,
sich an diesen zu erinnern!
Ich wandte mich ab und lief weiter, um alles
zu erkunden, hielt aber plötzlich inne. Auch, wenn alles verlassen schien,
vielleicht waren dort doch Menschen? An der Schlossfassade wurden Bauarbeiten
durchgeführt, wie schweres Gerät und Baumaterial bewiesen. Was, wenn dort
Bauarbeiter herumliefen? Oder die Besitzer dieses vernachlässigten Schätzchens?
Unsicher drehte ich mich wieder herum und schob die Hände tiefer in die
Jackentaschen. Es hatte auch zu regnen begonnen und die grauen Regenwolken
ließen den Tag früher verschwinden, als zu wünschen war. Es würde nicht mehr
lang dauern, bis die Sonne unterging.
Unentschlossen stieß ich mit dem Schuh ein
Steinchen zur Seite. Die Spitzen waren staubig, die Sohlen schlammig. Meine
ganze Erscheinung war nicht besonders ansprechend, denn ich machte mich nicht
besonders zurecht, wenn ich auf meine Ausflüge ging. Bewusst suchte ich
Gegenden auf, in denen ich keine Gesellschaft erwartete und auch selten welche
bekam. Würde das hier genauso sein? Sollte ich lieber verschwinden? Oder morgen
wiederkommen? Andererseits war, falls wirklich Renovierungsarbeiten
durchgeführt wurden, der Abend die beste Zeit, um ungesehen durch das Gelände
zu schlendern, denn die Baumaschinen standen still. Die Arbeiter saßen wohl
längst bei ihren Familien am Abendbrottisch und verschwendeten keinen Gedanken
mehr an den melancholischen kleinen Ort, dem sie am Tage ihre Muskelkraft
widmeten. Ich sollte das auch tun, beim Abendessen sitzen und meinen
Mann von seinem Tag erzählen lassen, aber ich wollte einfach nicht nach Hause.
Ein Geräusch riss mich aus meinen trüben
Gedanken. Schritte, ein Schlurfen, als ob jemand das Bein nachzog. Ein
stämmiger, doch gebeugter Mann tauchte am Rand des Weges auf, der von den Pavillons
zu den Scheunen mit der Kapelle führte.
Er würdigte mich keines Blickes und lief
einfach an mir vorbei, ein paar Latten von der Baustelle unter dem Arm. Seine
Kleidung war alt und abgetragen, schien aber einigermaßen sauber zu sein, in
seinem Gesicht prangte ein zotteliger Bart und darüber strähniges Haar, das ihm
bis in die Augen hing. Er hätte grüßen können oder etwas so Nichtssagendes von
sich geben können, wie: Schön hier, nicht wahr? Dann hätte ich genickt
und geantwortet: Ja, und so einsam. Er hätte mich auch erschrecken oder
davonjagen können, oder zumindest nachhaken, was ich hier tat. Zwar war das
Betreten nicht verboten, immerhin gab es ja sogar Schilder, die über die
Geschichte informierten, und der weitläufige Park lud eindeutig zum Verweilen
ein. Doch eine Frau mit vielleicht wirrem Blick, die Hände verkrampft in die
Taschen geschoben, die Augen verklärt zwischen allen Himmelsrichtungen hin und
her werfend, mochte auf einen Fremden durchaus irritierend wirken.
Doch der Mann tat nichts davon. Er ignorierte
mich, als sei ich ein Gespenst, das nur Eingeweihte wahrnahmen, und ging seiner
Wege.
Nun war ich neugierig geworden. Was tat ER
wohl hier? Er entsprach dem klassischen Klischee eines Penners, es fehlte nur
die Flasche billigen Rotweins unter dem Arm. Hatte er sich hier häuslich
niedergelassen, um bei dem ständig wiederkehrenden Nieseln ein Dach über dem
Kopf zu haben? Für verlassene Orte war das nicht ungewöhnlich, im Gegenteil. Es
war sogar sehr wahrscheinlich, dass irgendwann ein Tippelbruder die Verlassenheit
des Ortes und die soliden Steinmauern entdeckte. Die Schlösser an den
Scheunentüren waren leicht aufzubrechen und das Innere der verlassenen Häuser
versprach ein Obdach und Schutz vor dem Wetter. Vermutlich gab es noch mehr von
denen, die sich nach Sonnenuntergang um ein Feuer im Innenhof scharten und die
am Tage erbettelten Würstchen in die Flammen hielten, bis sie schwarz waren und
vor Fett trieften. Noch ungewöhnlicher war, dass sich zwar überall Anzeichen
des Verfalls befanden, doch nirgendwo welche von Vandalismus und Zerstörung. So
gefährlich konnte der Fremde demnach nicht sein. Ich brauchte nicht viel Mut
zusammenzunehmen, denn ich bewies genug davon, indem ich jeden Tag tapfer in
meinen ungeliebten Alltag startete. Das bisschen, was ich brauchte, kratzte ich
also zusammen und folgte dem Typen, fest entschlossen, ihn anzusprechen, und
nach seinen Lebensumständen zu fragen.
Warum ich das tat? Ich weiß es nicht.
Vermutlich, weil es mich von den ewiggleichen, kreisenden und quälenden
Gedanken in meinem Kopf für einen Moment ablenkte. Womöglich erhoffte ich mir
auch unbewusst, er nähme mich als Bedrohung war, und würde in einer impulsiven
Reaktion aus einer Ecke springen und so lange meine Kehle zudrücken, bis alles
Leben aus mir herausgeflossen war. Dann musste ich es wenigstens nicht selbst
tun. Zum Leben reichte mein Mut gerade noch aus, zum Sterben war ich zum
damaligen Zeitpunkt zu feige. Oder zu erschöpft. Ich konnte weder den
Willensakt noch die Tat selbst bewältigen. Ich konnte nur weiter atmen und
laufen.
In einigem Abstand folgte ich dem Penner und
sah, wie er mit einem Schlüssel das Schloss an einer der Türen entriegelte. Hatte
er es selbst dort angebracht? Oder eine Genehmigung des Eigentümers erhalten?
Seltsam, das war wirklich seltsam. Er ließ die Tür offen, als er hereinging,
als wolle er mich einladen. Ich wartete einen Augenblick, bevor ich an ein
Fenster herantrat und dicht an die dreckige Scheibe heranging. Spinnweben
verfingen sich in meinem Haar, das schmutzige Glas unter meinen Händen, mit
denen ich das Licht abschirmte, fühlte sich klebrig und rau an. Schäm dich,
Clara. Spionierst einem alten Mann hinterher, der vermutlich nicht mal etwas zu
essen für heute Abend hat! Im dämmrigen Gebäude kauerte der Alte nun auf
dem mit Steinbrocken und Staub übersäten Betonfußboden. In einer Ecke sein
Schlafsack, ordentlich zusammengelegt. Daneben ein Campingkocher, ein Topf,
eine Thermoskanne. Ein olivgrüner Rucksack, wie ihn Weltreisende zu tragen
pflegen. Am Fenstergriff baumelte ein kariertes Männerhemd und ich musste lächeln
über das Klischee. Eine längst vergessene Regung, mit der meine Mundwinkel ihre
Schwierigkeiten hatten, weil sie sich so ungewohnt anfühlte. Er hatte es sich mit
seinen bescheidenen Mitteln gemütlich gemacht. Es fehlten nur noch ein
Waschkrug, ein Stück Kernseife und ein verwaschenes Frotteehandtuch.
Kurz blitzte ein Bild von mir und Marcel auf,
wie wir allabendlich vor dem schwarzen Loch hockten, das er Fernseher nannte,
die weichen Sofapolster unter den Hintern, die Füße von der Fußbodenheizung und
dem Teppich gewärmt. Mich überkam Scham. Ich, die doch so viel hatte, jammerte
in einer Tour und klagte dem Himmel mein ewiges Elend. Er, der im Vergleich zu
mir doch kaum etwas besaß, machte das Beste aus seiner Lage. Er pfiff sogar ein
Liedchen, ich konnte es durch die dünnen Scheiben hören. Noch immer nahm er
keine Notiz von mir, obwohl er doch gesehen haben musste, dass ich am Fenster
stand und ihn begaffte, als sei er ein besonders exotisches Zootier.
Auf einmal überschwemmte mich der Wunsch, ihm
zu helfen. Freilich standen mir auch nur bescheidene Mittel für den Augenblick
zur Verfügung, denn ich lief ohne Tasche oder sonstige Dinge los, die ich ja
doch nur hätte tragen müssen. Aber ich fand beim Kramen in meinen Taschen neben
einer Brille, die ich nie trug und ein paar Krümeln auch noch einen Zwanzigeuroschein
und mein Frühstück, das ich am Vormittag nicht gegessen hatte. Zwei in Papier
eingewickelte Käsebrote und etwas Geld, das mochte für den Moment genügen.
Als ich mich endlich hinein traute, hatte er
bereits einen Tee zubereitet, der aromatische Schwaden aus der zerbeulten
Thermoskanne aufsteigen ließ. Er war dabei, die von der Baustelle geklauten
Latten mit Nägeln zu verbinden, die er mit einem Ziegelstein hineinschlug. Es
gelang nur mäßig, doch ich hörte ihn nicht schimpfen oder fluchen. Er pfiff
weiter sein Lied und in der Kanne dampfte der Tee, der ihm die von Wind und Regen
feuchten Glieder wärmen sollte.
Ich mochte nichts sagen, weil er auch nicht sprach.
Sollte er mich für stumm halten, ich würde ihn sowieso nicht wiedersehen.
Menschen ohne festen Wohnsitz zogen in der Regel weiter und vielleicht war auch
ich es, die nicht mehr an diesen Ort zurückkehren würde. Ich hatte ein
Leben da draußen! Eine kümmerliche kleine Missgeburt, aber immerhin einen Hauch
von Leben, zusammengehalten von Routinen, sinnentleerten Ritualen und
innerlicher Erstarrung. Diese Lebenszeit, so unbedeutend sie auch war, konnte
ich nicht auf einem Steinboden mit einem hoffnungslos vergnügten Penner
verschwenden.
Der
Unbekannte, er war vielleicht Mitte bis Ende sechzig, nickte wie
selbstverständlich, als ich Geld und Essen zu ihm herüberschob. In mir stieg
trotzdem erneut Scham auf, die meine Wangen erröten ließ: Der Schein war okay,
das Brot war es nicht. Marcels Stimme in meinem Kopf, umrahmt von heiserem
Gelächter: Clara, du Dummerchen, wie kannst du dem Mann deinen angenagten Mittagssnack
anbieten? Diese Mischung aus kopfschüttelndem Missfallen und großzügigem Darüberhinwegsehen
– wie ich es hasste!
„Ich hab noch nicht reingebissen“, sagte ich
entschuldigend und drängte die Scham, die mich an Marcels ständige
Geringschätzung erinnerte, beiseite. Es war ein sauberes, unangetastetes Brot,
am Morgen frisch belegt! Kein Grund, mich schlecht zu fühlen! Dazu meine
letzten zwanzig Euro für diesen Monat, der allerdings auch nur noch zwei Tage
dauern würde. Dies war der erste Satz, der zwischen uns fiel und an jenem Tag
würde er auch der einzige bleiben.
Trotzdem trieb mich die Stimmung in der Ruine
nicht zum Aufbruch. Der Fremde aß das Brot und reichte mir ein Stück, doch ich
schüttelte den Kopf. Von dem Tee, den er mit mir teilte, nahm ich gern. Er
schmeckte säuerlich und fruchtig und es war mir egal, dass man nicht gemeinsam
aus einer Tasse trinken sollte, schon gar nicht mit einem Fremden. Gefühlt war
er mir nicht mehr fremd, er wirkte sogar vertrauter und zugänglicher als der
Mann, mit dem ich seit vierzehn Jahren verheiratet war.
Der Mann baute aus den Latten ein wackliges
Regal, auf dem er eine Handvoll Bücher platzierte, die er aus seinem Rucksack
holte. Abgegriffene Exemplare mit Flecken und Eselsohren. Sie waren wohl
hundertmal gelesen worden.
Bücher! Diese liebevollen, immer
geduldigen Gesellen, die zuverlässig in eine fremde Welt entführten und damit
der Seele eine Verschnaufpause verschafften, wenn es nötig war! Bücher, die
einst mehr zu meiner Identität gehört hatten als jeder Arm oder jedes Bein!
Bücher, die Zentrum und Fixstern meines Lebens gebildet hatten! Der Anblick
schmerzte mich.
Mir imponierte, mit welcher Sorgfalt und
Präzision Wilhelm sein improvisiertes Regal aufbaute und seinen kümmerlichen
Besitz einsortierte, als sei nur diese einzige Tätigkeit auf der Welt bedeutsam.
Ich beobachtete ihn immer wieder verstohlen. Faltige, feingliedrige Hände mit
schmutzigen Nägeln. Kluge, klare Augen in tiefen Höhlen, umgeben von einem
feinen Gespinst aus zarten Furchen. Der Mantelkragen hochgeschlagen zum Schutz
vor der Kälte, die spürbar ins Zimmer und uns in die Körper kroch. So viel Leid
und Elend in diesem Gesicht, Mensch gewordener Kummer hinter einem
unbeschwerten, optimistischen Lächeln, das für mich doch den Raum erhellte.
Manchmal, so heißt es doch, begegnen uns Engel, die alles ändern, und auch,
wenn das kitschig klingt und ein Engel sicher nicht in Gestalt eines
abgehalfterten Obdachlosen auftaucht, so wollte ich doch an diese kindliche
alte Illusion glauben, mich ihr hingeben und ganz in sie eintauchen. Sie
eröffnete mir, was ich kaum geahnt hatte: Dass es noch etwas anderes gab neben
der Welt, die ich kannte. Und dass ich selbst im Kern immer noch da war, auch,
wenn es mir nicht gelang, die Bruchteile, aus denen ich bestand, wieder zu
einem Bild zusammenzusetzen.
Wir waren aus der Zeit gefallen, vielleicht
sogar aus der Welt, Wilhelm und ich.
Ich hätte ewig dort sitzenbleiben mögen. Doch
irgendwann erhob ich mich und die Hand zum Gruß, mit einem Blick versichernd,
dass ich wiederkommen würde. Ich musste nach Hause, Marcel würde schon längst
auf mich warten und erbost darüber sein, dass ich mich noch nicht um das
Abendessen gekümmert hatte. Auch Brot würde ich keins mitbringen, denn dafür
waren eigentlich die zwanzig Euro vorgesehen gewesen, die ich ja nun verschenkt
hatte. Das Frühstück am nächsten Morgen würde aus Salami auf Knäckebrot
bestehen, irgendwo hatte ich noch eine Packung im Küchenschrank. Vielleicht ein
paar Apfelstücke dazu und ein Salatblatt, das im Kühlschrank vor sich
hinwelkte. Marcel würde trotzdem merken, dass ich das Geld verloren hatte, wie
ihm kaum etwas entging, was ich tat. Er würde das Gesicht verziehen und mir
etwas zu grob das Haar zausen: Hast du schon wieder Geld verloren, Kleines?
Bist wieder schlafend mit offenen Augen durch den Traum gerannt, den du Leben
nennst und bringst meine hart erarbeitete Kohle durch, weil, du einfach nicht
aufpassen kannst? Zerstreutes Mäuschen! Sollte er doch!
Ich konnte warten, bis er schlief und dann auf
Zehenspitzen in den Keller tappen, wo in einem staubigen Regal in der
hintersten Ecke meine Lieblingsbücher standen und sich hoffentlich erfolgreich
gegen Nässe, Schimmel und Vernachlässigung wehrten. Ich würde eins aus dem
Stapel ziehen, über den Einband streichen, die Seiten aufschlagen. Vielleicht
war ich von der geheimnisvollen Krankheit, die mich meine Lesefähigkeit
gekostet hatte, wie durch ein Wunder genesen und konnte mehr mit dem Buch
anfangen, als seine Buchstaben zu Worten ohne Bedeutung aneinanderzureihen?
Sie fehlten mir, die Bilder in meinem Kopf,
ohne die es ganz dunkel und kalt war. Die Erzählerstimme wieder zu vernehmen
und eine Geschichte durch mich hindurchgleiten zu lassen, wo sie Spuren
hinterließ – wie schön würde es sein! Ich verdankte es Wilhelm, mich an diese
Idee zu erinnern, einmal wieder im Keller nach den Büchern zu schauen. Ich
musste sie ja nicht lesen, was mir sowieso nicht gelang. Ich konnte sie auch
fürs Erste einfach nur betrachten. Anschauen, berühren, ihren Geruch aufnehmen.
Vielleicht würde ich mir einen Tee kochen und mich auf dem Sofa unter eine
Decke verkrümeln wie damals, als das Lesen meine zweite Natur gewesen war. Die
Decke ließ mich daran denken. Jene Decke auf dem Dachboden, die ich meinem
interessanten Gegenüber wohl morgen mitbringen konnte, ohne aufzufallen, weil Marcel
nicht mehr an sie dachte. Sie stammte aus meinem alten Kinderzimmer und war
nicht gut genug gewesen, um den Gästen gezeigt zu werden, deshalb hatte er sie
auf den Dachboden verbannt. Streng genommen war es aber ja auch meine
Decke, nicht unsere. Der Gedanke, dass es etwas gab, das nur mir
gehörte, war neu und auf eine fast erhebende Art rebellisch. Im Kopf machte ich
mir eine Notiz: Decke mitbringen. Wilhelm nach Lieblingsbüchern fragen. Auf
dem Steinboden sitzen, den Rücken an der Wand, der Fremde neben mir. Schweigen,
am Tee nippen, nur spüren, dass da jemand ist. Ein Gefühl von Frieden
verspüren, das mir abhandengekommen war wie das Geld, die Gewissheit: Es ist
gut, wie es ist. Den eigenen Kummer wie einen reißenden Sturzbach durch die
Eingeweide stürzen hören, aber nicht mehr wie ein weltumspannendes Meer, das
keinen Ort zu Lande von den Fluten verschonte! Das konnte eine erhebliche
Verbesserung sein.
Es gab wieder etwas, worauf ich mich freuen
konnte, und wenn es nur ein Penner in einem Abrisshaus irgendwo in der Einöde
war.
(...)
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