Donnerstag, 10. September 2020

Wie "Die meisten Likes" entstand

Aus der Autorenwerkstatt
Zum Zweck einer Weiterbildung im psychologisch-psychiatrischem Bereich arbeitete ich im vorletzten und letzten Jahr schriftlich das ICD-10 durch (das Standardwerk der psychiatrischen Störungen) und notierte mir das ganze Wissen stichpunktartig auf Papier, um es auswendig lernen zu können.

Mir fiel auf, dass ich bei den medizinischen Urteilen darüber, was als "gesund" und was als "psychisch krank" gilt, irgendwie eine andere Sichtweise als die gängige pflegte: Zum Beispiel erschien mir ein erschöpfter Mensch, der seine Ressourcen schont, indem seine Depression ihn auch gegen die gesellschaftliche Forderung, immer aktiv und erfolgreich zu sein, zur Ruhe zwingt, ziemlich schlau zu sein. Oder ich staunte über die Fähigkeit des Geistes, mit Traumata umzugehen, indem er Unerträgliches abspaltet und sozusagen auf einer anderern Festplatte als dem Bewusstsein speichert. Die bunte Imaginationskraft von Menschen mit Wahnvorstellungen erinnerte mich an die Macht der Fantasie, eine Persönlichkeit und ein ganzes Leben zu verändern. Ich sah nicht nur Krankheit, Störung, Funktionsuntüchtigkeit. Ich sah auch Kreativität, Fülle und Stärke.

Während ich mit der klassischen Definition von "gestört" rang, tauchten die Figuren aus "Die meisten Likes" vor meinem inneren Auge auf. Der depressive Witwer Norbert, der so ganz anders sein konnte, als alle dachten. Die unterdrückte und misshandelte Kerstin, die es nicht schaffte, sich freizustrampeln, obwohl sie so viel Herzenswärme und Potenzial besaß. Die verzweifelte Martha, die sich nach Liebe sehnte, aber ihr echtes Ich hinter Theatralik versteckte. Die menschenfeindliche Mia mit dem schlauen Kopf, die niemandem vertraute, aber doch bis ins Herz hinein loyal war.

Ich sah sie alle vor mir, diese Prototypen bestimmter psychiatrischer Störungen. Und ich sah sie in dieser alten Schule, in der ich einst das Lesen und Schreiben gelernt hatte. Dann war die Geschichte da und ich brauchte sie nur noch zu plotten und aufzuschreiben, denn gleichzeitig beschäftigte mich die Frage nach der zunehmenden Sensationslust der Menschen und ihrer Gefahren. Als Soziologin kannte ich natürlich die ganzen pikanten Experimente zum Thema Manipulation, die irgendwie aktueller denn je zu sein schienen, deshalb war die Story schnell geboren.

Die Schule, falls jemand sie sich mal ansehen will, ist übrigens heute die Berufsakademie von Eisenach und liegt gegenüber vom Friedhof. Sie sieht nicht mehr so aus wie damals, aber die Bilder stehen mir so klar vor Augen, als sei ich erst gestern als kleines Mädchen mit meinem Ranzen auf dem Rücken über den Hof gelaufen.

Die Geschichte von "Die meisten Likes" ist ein Stück weit auch die Erfahrung meiner Kindheit - nicht inhaltlich, sondern den Schauplatz betreffend. In meinem Herzen ist die Schule zu einem Lost Place geworden, den ich irgendwie immer bei mir trage. Die Figuren halfen mir dabei, mir den Lernstoff einzuprägen. Und das Thema "Chancen und Gefahren des Internets" umgibt sowieso jeden von uns tagtäglich, der sich darin bewegt. 

Ein kurioser Mix, oder?

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