Schließlich
stehen wir vor einem dritten Baum, der aber beileibe nicht der letzte in der
Reihe ist, denn in der Ferne kann ich nicht nur Berge, eine Art Tempel und eine
endlos weite Wüste, die sich bis zum Horizont erstreckt, erkennen, sondern auch
jede Menge weiterer Bäume und andere Gewächse. Welche Art von Früchten sie
tragen, sehe ich nicht, dazu sind sie zu weit weg. Ich blicke auf meine Füße
und denke kurz darüber nach, ob ich vielleicht einen von diesen kleinen Rubinen
oder Turmalinen in die Tasche stecken soll, doch Fredi knufft mich gegen das
Knie.
„Schau nach
oben! Schau immer nach oben und senk
nicht den Kopf, als würdest du dich schämen oder hättest was zu verbergen!“
Mein Blick
gleitet an Stamm, Ästen und Zweigen entlang, die in einem warmen Rosenholzton
schimmern. Der Baum, unter dem wir stehen, ist viel kleiner als die anderen und
trägt kein Laub. Es ist gut zu erkennen, wie feinverzweigt und vielgliedrig das
Astwerk ist. Ich sehe allerdings auch keine Knospen.
„Der Baum der
Wünsche“, sagt Fredi.
„Er ist kahl!“,
entfährt es mir. „Heißt das, ich habe keine Wünsche?“
Ein kleiner
Schock legt sich wie ein Schatten über meine Glieder, die sich mit einem Mal
schwer und ungelenk anfühlen. Ich überlege intensiv, was ich mir wohl in der
letzten Zeit gewünscht haben mag – und tatsächlich fällt mir nichts ein. Der
Baum wirkt tot. Himmel, was sagt das über mich aus? Ein Mensch ohne Wünsche!
Fredi antwortet
mir nicht. Er hat wohl erkannt, dass ich den richtigen Schluss gerade selbst
gezogen habe. Ich bin nicht nur ernsthaft, sondern sogar vertrocknet! Wo steht
jemand im Leben, der keine Wünsche mehr hat? Ich schätze, ich muss mein
Weltbild und meine Lebenseinstellung einmal überdenken!
„Vielleicht mag
er gerade weder Laub noch Früchte tragen, aber das bedeutet ja nicht, dass man
ihn nicht wieder zum Blühen bringen kann.“ Das sind seine Worte und sie klingen
versöhnlich. „Weißt du, wie eine kleine Weide aussieht, wenn man sie im Gartenfachhandel
bestellt? Man sieht auf dem Bild eine wogende Masse von hellgrünen Blättchen an
biegsamen Ästen. Aber wenn man die Lieferung auspackt, liegen da nur
kümmerliche Stöckchen im Stroh, von denen man annimmt, dass sie niemals mehr
sprießen. Dein Baum ist nicht tot – er braucht nur ein bisschen
Aufmerksamkeit.“
„Was kann ich
machen?“, frage ich, von der Idee beseelt, dieses Desaster sofort zu ändern.
„Pflanzen
brauchen Wasser, Licht und Nährstoffe“, zitiert Fredi einen Gartenratgeber,
„und etwas Zeit. Und dieser Baum braucht Inspiration.“
Er zeigt mit
seiner Faust in eine unbestimmte Richtung. Ich laufe ein Stück um den Baum
herum und renke mir fast den Hals aus, weil ich so intensiv nach oben spähe.
Der Baum ist gar nicht ganz leer. An einem Zweig, den ich gerade noch so
erreichen kann, wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle, baumelt ein Buch.
Ich pflücke es ab wie eine besonders kostbare Frucht. Es ist klein, kompakt und
hat viele Seiten. Der Einband ist braun wie von altem Leder und man kann es mit
einem Bändchen, das man dreimal herumbinden kann, schließen. Auf dem Deckel
prangen rätselhafte Zeichen und merkwürdige Bilder, die ein bisschen wie alte
Höhlenmalereien wirken. Die Seiten hingegen sind bunt. Jede hat eine andere
Farbe. Ich blättere neugierig und auch etwas ehrfürchtig durch, doch die Seiten
sind unbeschrieben. Sie enthalten nicht einen einzigen Buchstaben.
Fragend halte
ich Fredi das Büchlein entgegen.
„Es ist deine
Aufgabe, es zu füllen“, sagt mein kleiner Freund.
„Ich soll es
also mitnehmen und etwas reinschreiben.“ Natürlich vermute ich, dass es sich um
ein Tagebuch handelt. Tagebuch habe ich ungefähr vor zwanzig Jahren zum letzten
Mal geführt.
„Gewiss nicht“,
gibt Fredi zurück. Sein Mienenspiel ist plötzlich lebendig und er hat rote
Wangen. Erstaunlich für eine Puppe aus Plastik und Füllwatte.
„Es ist ein
Reisetagebuch. Wir beide, du und ich, wir unternehmen in den nächsten Nächten
ein paar Reisen.“
„Nachts muss ich
schlafen“, gebe ich scharf zurück, weil mich das ganze Geschehen zu ängstigen
beginnt. Bislang war diese Welt ein bisschen absurd und sehr schön. Aber die
Vorstellung, mit einem fingerlosen Stoffgeschöpf in überfüllten Zügen zu hocken
und auf Bahnhofsbänken zu rasten, behagt mir überhaupt nicht. „Ich muss nachts
schlafen, weil ich tagsüber arbeiten muss.“
„Erstens
schläfst du nachts sowieso nicht, wenn ich das mal bemerken darf.“ Fredi ist
nicht aus dem Konzept zu bringen. „Zweitens musst du auch nicht arbeiten, wenn
du dazu keine Lust hast.“
„Ach nee!“ Meine
Hände, die das Buch halten, als hätte es eine ansteckende Krankheit, sind
feucht von Schweiß. Ob vor Furcht oder vor Wut – ich weiß es nicht. „Wenn ich
nicht arbeite, hab ich kein Einkommen! Dann kann ich meine Miete nicht zahlen
und das Auto… Essen… Medikamente… Bücher… Mein Kühlschrank ist alt und macht
seltsame Geräusche, ich brauch sicher bald einen neuen! Ich kann auch gar nicht
verreisen, weil Reisen Geld kostet und zwar jede Menge! Mein Gehalt ist auch
viel zu niedrig, um Extrawürste zu braten…“ Ich verstumme. Versuche ich hier
gerade, vor einem Kinderspielzeug zu rechtfertigen, warum ich weder Lust noch
Mittel für skurrile Ausflüge habe?
„Wir beide
werden auf Reisen gehen“, fährt Fredi unbeirrt vor, als sei es beschlossene
Sache, „und du wirst auf jeder Reise einen Gegenstand finden, den du brauchst.
Diese Gegenstände sind klein und flach genug, um sie in das Büchlein zu legen.
Du sammelst diese Gegenstände und dann legst du sie in dein Buch. Du darfst
keinen auslassen und wenn du fertig bist, dann wirst du schon sehen. Es ist
nämlich eine Art Puzzle.“
„Wozu sollte ich
das machen?“ Angriffslustig verschränke ich die Arme vor der Brust. Wenn dieses
kleine Wesen glaubt, es könnte mich zu irgendeiner absurden Aktion zwingen, hat
es sich geschnitten! In meiner Welt bestimmen nicht Puppen den Plan, nach dem
sich Menschen zu richten haben!
„Dein Baum der
Wünsche liegt im Sterben“, erklärt Fredi nüchtern und deutet auf das rosa
Gerippe, dessen letzte Frucht nun auch abgeerntet worden ist. Mein Widerstand
zerschmilzt wie Butter in der Pfanne. Ich wage nicht zu fragen, was passiert,
wenn der Baum tot ist.
„Du wirst am
Morgen nicht müde sein“, sagt Fredi nun in einem tröstlichen Ton. „Dein Leben
wird ganz so laufen wie sonst auch. In den Nächten sind wir unterwegs und am
Morgen wirst du frisch und ausgeruht zurückkehren und es wird sein, als habest
du selig wie ein Baby geschlafen. Und Geld“, lächelt er, „dein Geld, das euch
Menschlein so aberwitzig wichtig ist: Weder brauchst du es, noch kann es dir
nützen. Dort, wie wir hingehen.“
Er sagt „gehen“
und nicht etwa „fahren“ oder „fliegen“.
„Wo gehen
wir denn hin?“ Ich stelle die Frage, doch möchte ich die Antwort hören?
„Wir reisen in
deine Heimat“, sagt Fredi. In mir macht sich Demotivation breit.
„Da will ich
schonmal überhaupt gar nicht hin!“ gebe ich bockig zurück. Soll ich für das
Geschöpf eine kleine Sightseeing-Tour durch die Eisenacher Highlights
veranstalten? Bachhaus, Lutherhaus, Wartburg?
Im Café Toccata am Markt ein
Eis essen? All die Straßen durchqueren, die mir Unbehagen bereiten? Vielleicht
noch an der alten Wohnung vorbeischleichen, in der ich als einziges ungewolltes
von drei Kindern aufgewachsen bin?
„Ich will da
nicht hin“, wiederhole ich. „Wenn wir schon reisen müssen, wie du sagst, warum
dann nicht nach Wien oder Venedig?“
„Viele Leute
sind schon nach Wien oder Venedig gereist und ein paar sogar auf den Mond. Das
hat nicht verhindert, dass ihre verkrüppelten Bäume der inneren
Seelenlandschaft ihr Lebenslicht aushauchten. Nur zu Hause wirst du finden, was
du suchst.“
„Ich suche gar
nichts! Es ist auch nicht mehr mein Zuhause! Ich bin… seit zwanzig Jahren dort
weg! Ich bin froh, dass ich aus diesem gutbürgerlichen Scheißmief raus bin und
genug… Abstand habe!“ Ich wehre mich mit Händen und Füßen, obwohl ich im Grunde
selbst weiß, dass meine Einwände nichts ändern werden.
„Es wird dir
gefallen“, meint Fredi. „Wir reisen nicht in das Eisenach von heute. Du wirst
niemanden treffen, den du nicht sehen willst. Eisenach hat eine lange und
bewegte Geschichte. Wir reisen nach Eisenach und in die Vergangenheit.“ Er tritt neben mich. Ich habe auf einem
Felsen, der wie ein Rauchquarz aussieht, Platz genommen, das Buch im Schoß.
Fredi liegt mir seinen Handstummel auf den Oberarm.
„Du meinst, wir
schauen Luther über die Schulter, während er die Bibel übersetzt und wohnen
einer Hexenverbrennung bei? Oder verkaufen wir Eier auf dem mittelalterlichen
Wochenmarkt?“ Ich kann nicht glauben, dass ich das frage. Es ist nicht einmal
vorstellbar!
„Du willst doch
auch, dass dein Baum der Wünsche wieder blüht, nicht wahr?“
„Was passiert,
wenn ich ihn nicht retten will?“
„Dann wirst du
sehr krank werden.“ Er bleibt vage, doch diese Aussage ist erschreckend genug.
„Aber was ist,
wenn ich ihn nicht retten kann?“
Diese Welt, so
schön sie ist, gefällt mir nicht mehr! Außerdem
kommt sie mir ein paar Schattierungen heller vor als eben noch. Vielleicht wäre
es doch besser, einfach in der echten Welt im Bett zu liegen und sich
herumzuwälzen, bis ein unruhiger, oberflächlicher Schlaf kommt. Die echte Welt
mag langweilig oder sogar beängstigend sein, aber zumindest ist sie mir
vertraut und einigermaßen berechenbar.
Ist sie das wirklich?, frage ich mich im Stillen. Ist sie nicht genauso fremd und eigenartig wie diese skurrile
Landschaft hier?
„Du bist die
Einzige, die ihn retten kann“, erklärt Fredi. „Immerhin ist es dein Baum.“
Er ist blass
geworden. Nein, durchscheinend sogar. Die Wiese, die Bäume, das Meer in der
Ferne – alles verliert an Farbe. Die Vögel singen nicht mehr und selbst das
Büchlein in meiner Hand hat an Gewicht eingebüßt. Ich kann nicht mehr
antworten. So innig ich mir gewünscht habe, ich läge wieder in meinem Bett, so
rasch ist die Welt um mich herum verschwunden.
(...)
Der Text ist ein Auszug aus meinem Buch "Fredi", in dem Hanna in den Kristallwelten ihrer kleinen Puppe aus der Kindheit begegnet, die ihr erklärt, sie würde mit ihr eine Reise durch Raum und Zeit unternehmen, um ihren sterbenden Baum der Wünsche zu retten.
"Fredi" und mein Fehler
Das Buch bewerbe ich schon lange nicht mehr aktiv, denn leider ist mir beim Hochladen der Datei damals ein Fehler passiert - ich habe versehentlich die unkorrigierte Version angeklickt (Ja, auch das passiert, wir sind eben doch alle Menschen) und kann dies auch nicht mehr schnell ändern, weil mein Dienstleister nicht mehr existiert. Das ist schade, weil es inhaltlich eins meiner besten und vielseitigsten Bücher ist.
Eine Änderung ist allerdings kein "Mal-eben-schnell-gemacht-Ding" - ich müsste eine Neuauflage an den Start bringen und die frisst etwas Mühen und Zeit und ist nicht mal so erledigt.
Trotzdem wird genau das, denn das Buch wird eine zweite Chance bekommen und dann nach bestem Wissen und Gewissen rundüberholt mit überarbeitetem Text und neuem Cover auf den Markt kommen. Vermutlich spätestens im Frühjahr 2025. "Fredi" geht also in eine zweite Runde!
Die Collage und Wünsche aller Art
Für die oben abgebildete Collage "Der Baum der Wünsche", die jüngst entstanden ist, diente mir dieser Auftakt einer wundersamen Geschichte als Inspiration. Sie bringt mich dazu, mich auch mit meinen eigenen Wünschen einmal wieder näher zu beschäftigen.
Was wünschst du dir? Offenherzig oder insgeheim?
Wie ist das bei dir?
Welche Wünsche hast du ganz offen? Welchen strebst du bewusst entgegen?
Welche Wünsche wachsen im Verborgenen? Was ist ihr Sinn oder Ziel?
Was tust du, um deine Wünsche in die Welt zu bringen und zu realisieren?
Und: Wie wäre es, in einer Zeit zu leben, wo das Wünschen noch geholfen hat?